1) Ouvertüre
»Wenn Sie hier x mit φ multiplizieren, wie verändert sich dann Sigma?«
»Verdoppelt sich.«
»Und wie wird in einem Prähilbertraum mit V und F(φ) aus Sigma die Orthogonalität zweier Vektoren abgeleitet,
wenn der euklidische Abstand gleich dem Integral des Residuums der Funktion von φ gesetzt wird?«
»Da müsste ich raten«, antwortete Florian Anderbach.
»Diese Methode gehört in der Mathematik zu den weniger gebräuchlichen.« Professsor Bretzenheim schaute
auf die Uhr. Ȇberzeugend ist es keinesfalls, was Sie uns hier zum Thema Funktionentheorie anvertraut haben.
Sobald es ans Eingemachte geht, müssen Sie passen. Aber wir wollen es mal dabei belassen. Bestanden.«
Florian atmete tief durch.
»Dies heißt natürlich nicht, daß Ihr Verständnis in irgendeiner Weise den Ansprüchen
des Mathematik-studiums genügt«, warnte Professor Bretzenheim. »Im Grunde war das eine Fünf. Aber
ich will Ihnen keine Steine in den Weg legen. Bis zum Hauptdiplom werden Sie sich mit vielen Sachen noch gut vertraut
machen müssen. Ich kann Ihnen nur raten, tiefer in die Materie einzusteigen. Sonst wird es eines Tages ein böses
Erwachen geben.«
Der barmherzige Professor legte Florians Akte beiseite. »So, jetzt rufen Sie mal den nächsten Kandidaten herein.
Aber tun Sie bitte so, als wären Sie durchgefallen - sonst reißt der sich nicht zusammen.«
Bestanden. Florian verließ das Mathematikgebäude der Universität Mainz und holte tief Luft. Die letzte
von vier Vordiplomprüfungen war Geschichte. Knapp genug war's. Auch wenn beim alten Bretzenheim in den letzten 20
Jahren sicherlich niemand mehr durchgefallen war; Florian war unbeschreiblich froh, daß diese Serie auch bei seiner
persönlichen Auslegung mathematischer Gesetze gehalten hatte. Das Studium ist eben wie eine Autoscooterfahrt auf dem
Jahrmarkt: Ein paar harmlose Kollisionen, aber irgendwie kommt man immer durch. Und bis zum Diplom - kapiert sich das meiste
schon von alleine.
Überstanden. Florian verließ das Gelände der Universität Mainz. Als er das Torgebäude passiert hatte,
waren alle Warnungen des Mathematikprofessors vergessen. Bis zum Diplom hatte es Zeit. Viel Zeit. A lot o' water under the bridge.
Soviel Zeit, daß in absehbarer Zeit kein Gedanke mehr daran verschwendet werden musste. Florian war frei.
Er fuhr mit dem Bus hinunter in die Stadt. Zeit zu haben, heisst Leben. Richtig leben. Zeit, sich über die angenehmen
Seiten des Lebens zu freuen. Zeit, sich über die unerfreulichen zu ärgern. Zeit zum Nachdenken. Zeit zum Beobachten.
Zeit, sich einfach treiben zu lassen. Es war ein schwüler Sommertag. An solchen Tagen spürt man seine Mitmenschen
intensiver. Insbesondere, wenn man sich gezielt mit ihnen auseinandersetzen will.
Wie merkwürdig die Leute leben, dachte Florian, als er am Höfchen aus dem Bus stieg. Als ob sie programmiert
wären. Jeder hat etwas vor; sei es noch so idiotisch. Die Diktatur der Banalität.
Florian spazierte langsam in Richtung Rheinufer. Geht es noch verrückter, fragte er sich. Nur im eigenen Leben gestand
er sich ein. Zu den grössten Absurditäten - seit Erfindung der Unvernunft - gehört eine Vordiplomprüfung
in Mathematik. Da sitzt ein junger, gesunder Mann, anstatt die Welt zu erobern, wochenlang vor dem Schreibtisch und
beschäftigt sich mit Eventualitäten. Mit Konstrukten, die wie ein Kartenhaus zusammenfallen, wenn man lediglich
das Vorzeichen ändert. Höhere Mathematik, völliger Quatsch. Höherer Blödsinn. Konsequent abgekoppelt
vom wahren Leben. Ein Koordinatensystem der zermürbenden und nutzlosen Betätigung. Und wer ist mittendrin? Florian
der grosse Abenteurer!
So grübelte sich Florian in eine Sackgasse. Bei einem Intellektuellen beginnt an dieser Stelle der Schmerz.
Warnende Beispiele kannte Florian aus dem Schul-unterricht: Kafka. Kleist. Keine Vorbilder. Schon in jungen Jahren mit
tiefen Erkenntnissen gebeutelt zu werden, barg die Gefahr eines tragischen Endes. Florian mochte Erkenntnisse nur bis zu
einer gewissen Grenze. Nur solange man noch über sie lachen konnte. Dies konnte er allerdings länger als andere.
Das machte ihn nicht immer beliebt. Aber darauf war Florian auch nicht aus. Schliesslich war er gebürtiger Optimist.
Und ein Optimist braucht zum Handel keinen Applaus. Fand er.
Florian bummelte am Rheinufer entlang. Er entschied, sich wieder einmal weniger um die Welt zu scheren. Fließende
Wassermassen haben etwas Beruhigendes. Solange der Rhein noch von den Bergen ins Meer fließt, lohnt es nicht, sich
über jede Kapriole der Gesellschaft den Kopf zu zerbrechen. Und ebenso wenig, sich einzureihen. Florian mochte keine
festen Plätze. Und keine Platzanweiser. Er wollte keinen Ausschnitt, sondern das Leben in seiner ganzen Vielfalt. Von
allem etwas. Im Wechsel zwischen Spass und Ernst. Zwischen Pflicht und Kür. Zwischen Erfolg und Pleite. Die ganze farbige
Palette.
Hierbei gab es nur eine Sonderstellung: Die Frauen. So wie diese da drüben, dachte Florian. Er erblickte an der
Uferpromenade ein junges Mädchen. Sie hatte dunkelblonde Locken. Das reichte. Florian vertagte seine Selbstfindung
und sah so gut er konnte zu ihr herüber. Sie ging auf eine Ampel zu und machte Anstalten die Strassenseite zu wechseln.
Es war exakt der Weg, den Florian ohnehin einschlagen wollte. Die Ampel wurde grün. Florian verließ mit ihr den Rhein.
Sie ging ein paar Schritte in Richtung Bleichenviertel. An der Karmeliterkirche bog sie um die Ecke und verschwand in einem
populären Geschäft. Es war ein Supermarkt.
Ich müßte auch mal wieder einkaufen, überlegte Florian. Kurzentschlossen folgte er ihr in den Laden.
Unauf-dringlicher geht es nicht, dachte er. Einkaufen muß schliesslich jeder.
Im Supermarkt war es angenehm aufgeräumt. Ein Ort der Kultur. Florian fühlte sich mitten im Alltag. Und am
richtigen Ort für überraschende Begegnungen. Nachdem Florian seinen Einkaufswagen schnell gefüllt hatte,
hielt er sich an den Tiefkühltruhen auf. Die großen Truhen in der Mitte des Marktes boten neben der Konservierung
von Pizza und Eis einen weiteren Vorteil: Florian konnte bequem beobachten wie Madame ihren Einkaufswagen durch den Laden schob.
Er war der Meinung, daß sie diese Tätigkeit sehr anziehend machte: Betont die Figur, dachte er. Evolutionsbiologisch
wohl die Vorstufe zum Schieben eines Kinderwagens.
Das Mädchen hatte ein Herz für Naturprodukte. Nachdem sie ein paar Joghurts ausgesucht hatte, begab sie sich zur Obsttheke.
Eine echte Traumfrau, dachte Florian. Sie kauft bewußt ein: Obst, Gemüse Milchprodukte. Alles, was gut für den
Teint ist. Lobenswert.
Bei dieser Gelegenheit betrachtete Florian den Inhalt seines eigenen Wagens: Toast, Eier und Speck für die Räuber-mahlzeit.
Zweiter Gang waren Erdnüsse im Knuspermantel. Und als Nachtisch hatte er ein paar Dosen Bier ausgesucht. Genau das Richtige
nach einem harten Tag. Und vermutlich das Ungeeignetste, um die spontane Sympathie einer gesundheitsbewussten Frau zu gewinnen.
Aber das ließ sich ja glücklicherweise noch ändern.
Erstmal zurück ins Regal mit dem Junk, entschied Florian geläutert. Rumort eh nur im Magen! Er verteilte die Sachen an
ihre Ausgangsorte. Mit Erfolg. Als sein Einkaufswagen von diesen Wackersteinen befreit war, fühlte Florian sich schon viel
natürlicher.
Und jetzt Salat in den Wagen! Grün und gesund! Florian hatte seine Einkaufsstrategie grundlegend geändert. Und Möhren!
Nach und nach steigerte er sich. Und eine Gurke! Und Petersilie! Viel Volumen, leicht zu transportieren. Macht richtig Spass, gesund
einzukaufen. Und jetzt Wein! Das muß sein. Frauen mögen den Bonvivant mit kleinen Schwächen.
Florian legte zwei Flaschen Wein in seinen Wagen. Nach diesem Erfolg sah er sich nach seiner Angebeteten um. Die Obstabteilung hatte
sie verlassen. Nach einem schnellen Rundblick durch den ganzen Laden entdeckte er sie in einer Schlange an der Kasse. Glücklicherweise
hatte sie sich gerade erst angestellt. Florian beeilte sich, einen Platz in der Nachbarschlange zu erdrängeln. Es gelang mit Hilfe
von ein paar charmanten Entschuldigungen. Florian war ein Mann, der sich vordrängelt und entschuldigt.
Nun standen sie an. Aus Florians Sicht entstand eine Art Wettrennen. In der ersten Phase baute sie ihren Vorsprung etwas aus. Er
hinkte mindestens einen Kunden hinterher und sah seine Felle langsam davonschwimmen. Bis auf seiner Seite ein eiliger Krawattentyp
an der Reihe war, der nur einen Flachmann kaufte und der Kassiererin a Tempo einen Zehneuroschein entgegenhielt.
Guter Mann, dachte Florian etwas erleichtert und drückte der älteren Dame vor ihm sanft seinen Einkaufswagen ins
Gesäß. Nur einmal kurz und prägnant. Um ihr höflich die Lust am Oma-Trödeln zu nehmen. An der Kasse hatte
Florian das Mädchen fast eingeholt. Stolz breitete er seine voluminöse Warenauswahl auf dem Band aus. Grün dominierte.
Mit eleganten Handbewegungen korrigierte Florian noch ein paar Details, um als sympathischer Einkäufer sympathischer Waren das
Gesamtbild ab- zurunden. Nun fehlte dem abgerundeten Gesamtbild nur noch eines: jemand der es betrachtet. Leider keine Kleinigkeit.
Das Mädchen war mit ihrem eigenen Einkaufsvorgang beschäftigt. Und als sie die Waren ihrer Wahl bezahlt hatte, nahm ein
kleines Kind, das an ihrem Einkaufswagen rüttelte, ihre Aufmerksamkeit rücksichtslos in Anspruch. Florian war
untröstlich. Aber für einen Umtausch war es jetzt zu spät. Daher konzentrierte er sich darauf, den letzten Vorsprung
des Mädchens gutzumachen. Er warf das Wechselgeld in die Plastiktasche und erreichte fast gleichzeitig mit ihr den Kundentisch.
Zumindest der Kennenlernversuch war geritzt. Wenn es ihm nicht plötzlich die Sprache verschlug.
Florian begann umständlich mit seinem Grünzeug zu hantieren. Bei der Gelegenheit prüfte er noch mal gründlich
die Frische des Salates. Es half alles nichts. Das Mädchen blieb unbeeindruckt. Er musste sie ansprechen. Auch wenn ihm kaum
etwas Situationsgerechtes einfiel. Florian drehte sich zu dem Mädchen um. Sein Herz schlug. Und sein Kopf war so leer wie in
der Prüfung beim alten Bretzenheim. Aber die hatte er ja auch überlebt.
»Entschuldigung, wahrscheinlich sage ich jetzt etwas Dummes«, sprach er sie vorsichtig an. »Hab' Dich eben beim
Einkaufen gesehen. Bist Du vielleicht Model von Beruf?«
Das Mädchen sah ihn gnädig an. Florian biß sich auf die Zunge und versuchte zu korrigieren: »Also jetzt nicht,
weil Du so gut aussiehst, äh das heißt, Du siehst natürlich schon gut aus, ich meine, Du hast soviel Gemüse
gekauft, wegen gesunder Lebensweise und so. Und da dachte ich halt, wir könnten einfach ein Glas Wein trinken. So als spontane
Aktion in der anonymen Großstadt. Weil man ja sonst immer die selben Gesichter sieht.«
»Nette Idee«, antwortetet sie freundlich. »Aber ich bin schon verabredet. Vielleicht ein anderes Mal.«
»Schade«, fiel Florian dazu ein. Er drehte sich etwas enttäuscht zu seinen Sachen um. Und bekam dabei einen kleinen
Schreck. Auf dem Kundentisch lümmelte ein grinsender Bekannter. Damit nicht genug: Es handelte sich um Dieter. Beiname: das
Exempel. Der hatte gerade noch gefehlt.
Dieter, das Exempel. Er war auf jeder Party. Und er fiel durch jede Klausur. Auch in Fächern, in denen man gar nichts
falsch machen konnte. Dieter nahm es mit Humor. Er saß am längeren Hebel. Wurde es ihm zu bunt, strafte er die
Dozenten mit Fachwechsel.
Dieter, der Blitzableiter. In Kennerkreisen war er ein geschätzter Banknachbar. Auch Florian hatte einmal in einer
schwierigen übung seine Nähe gesucht. Wenn man in einem physikalischen Praktikum hockte, und nicht hundert-prozentig
genau wusste wie eine Diode funktionierte, war es für die eigene Sicherheit ganz gut, wenn nebenan ein Kommilitone saß,
der einer Diode nach mißlungenem Versuch zur Strafe gleich die Beine ausriß. Dieter flog raus. Florian bekam das Testat.
Dieter, der Chaot. Noch ehe sich Florian versah, war Dieter in den leeren Einkaufswagen des Mädchens geklettert. In
dieser Situation war gut zu sehen, daß er zwei verschiedene Schuhe trug. So ziemlich das einzige, worauf man sich bei
ihm verlassen konnte.
»Du machst bei Frauen immer noch alles falsch, Florian«, dröhnte Dieter triumphierend durch den ganzen
Supermarkt. »Bei Frauen muß man originell sein. Und spontan. Frauen mögen Männer, die auf's Ganze gehen.
Richtige Troubadoure. Und keine Absahner, die nur von der Seite anquatschen. Nicht wahr; Andrea? Oder heisst Du Susanne?«
Das Mädchen schaute süßsauer. Sie hatte noch ihre Pfandmünze in dem Wagen.
»Schieb' mich doch einfach zu Dir nach Hause«, schlug Dieter vor. »Ich bin der beste Einkauf seit langem.«
»Bestimmt«, sagte das Mädchen. »Aber jetzt hätte ich doch gerne meinen Euro wieder.«
»Siehst Du, Florian. So macht man sich unentbehrlich. Selbstverständlich bekommt die schöne Frau ihre
Münze zurück. Aber dafür braucht es geschickte Männerhände.« Dieter begann an der
Pfandvorrichtung zu rütteln.
Nun war es wohl genug. Florian ging es nur noch um einen guten Abgang. Er fischte einen Euro aus seiner Hosentasche und
beglich, nicht ohne Vortäuschung von Lässigkeit, die Schuld. Das Mädchen bedankte sich. Florian nahm seine
Tasche, warf sie Dieter zu und schob den schrägen Vogel im Einkaufswagen aus dem Laden. Solange er zwei Flaschen Wein
in der Tasche hatte, würde er Dieter ohnehin nicht so schnell los.
»Ciao Bella«, rief Dieter dem Mädchen winkend nach. Und sie winkte tatsächlich zurück. Florian
war sehr froh. Das war ja nochmal relativ gut ausgegangen.